ETH-Professor Anthony Patt steht am Geländer
Nachhaltigkeit

«Für Klimaschutz braucht es keinen Verzicht»

21. Oktober 2022

Er zweifelt an Lenkungsabgaben, setzt dafür auf technologischen Fortschritt: ETH-Professor Anthony Patt erklärt im Interview, weshalb der Klimawandel nur mit einer Energiewende gestoppt werden kann. Und welch bedeutende Rolle dabei Elektroautos zukommt.

Text Reto Neyerlin  Fotos Dominique Zahnd

Herr Patt, bisher hiess es, um den Klimawandel zu stoppen, seien Verzicht und höhere Lenkungsabgaben nötig … 

… und ich sage, es braucht weder das eine noch das andere.

Damit stehen Sie aber ziemlich quer in der Landschaft.

Noch vor zehn Jahren haben wir gedacht, wir könnten den Klimawandel aufhalten, indem wir unsere CO2-Emissionen reduzieren oder zumindest deren Wachstum bremsen. Deshalb hat man der Bevölkerung gesagt, fahrt kleinere Autos, esst wenig Fleisch oder fliegt weniger. Ein solches Verzichtverhalten lässt sich bis zu einem gewissen Grad auch mit Lenkungsabgaben steuern. Inzwischen ist aber klar geworden: Es genügt nicht, unsere Emissionen zu reduzieren, wir müssen sie auf null bringen. Und das bedeutet, keine fossile Energie mehr zu verbrennen – was die Restrukturierung des gesamten Energiesystems nötig macht.

ETH-Professor Anthony Patt sitzt am Tisch und redet
Ein durchschnittliches E-Auto benötigt die Energie von zehn Quadratmetern Solarpanels. Das ist etwa so gross wie ein Parkplatz.
Anthony Patt
ETH-Professor

Was heisst das in Bezug auf die Mobilität?

Es braucht nicht kleinere Autos, sondern andere Autos, konkret elektrische. Und in diesem Zusammenhang müssen wir auch die Stromproduktion komplett auf erneuerbare Energien umstellen. Denn E-Autos sind nur nachhaltig, wenn sie mit Grünstrom geladen und hergestellt werden. Da es zudem eine neue Infrastruktur benötigt, ist der Aufwand zu Beginn riesig. Ich sage deshalb immer, Klimaschutz ist einfach ein supergrosses Bauprojekt (lacht). Aber Verzicht ist nicht nötig, wenn man das System konsequent ändert.

Können wir denn genügend erneuerbare Energie produzieren, wenn auf einmal alle mit Strom fahren?

Ein durchschnittliches E-Auto in der Schweiz benötigt jährlich die Energie von zehn Quadratmetern Solarpanels. Das ist etwa so gross wie ein Parkplatz. Klar, dieser Strom fliesst nur tagsüber und vor allem im Sommer, deshalb sind auch zusätzliche Lösungen gefragt. Damit unser Netz stabil bleibt, brauchen wir aber sowieso eine Mischung aus Wasserkraft, Solar- und Windenergie. Unbestritten ist, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien rasch geschehen muss. Damit wir bis in zwanzig Jahren aufhören können, fossile Energie zu benutzen, müssen wir beispielsweise die jährlichen Investitionen in Solarenergie ums Vierfache erhöhen.

ETH-Professor Anthony Patt lächelt in die Kamera

Also sollte jeder, der sein Haus renoviert, künftig Solarzellen auf dem Dach montieren?

Das ist sicher gut. Wenn wir aber grosse Massen an günstigem Sonnenstrom haben wollen, dann bieten sich eher freistehende Anlagen an. Bei Solarparks hat man Skaleneffekte, die das ganze Projekt günstiger machen. Zudem sind freistehende Anlagen optimal ausgerichtet. Und in den Bergen, wo aktuell einige Grossprojekte geplant sind, ist die Photovoltaik in den Wintermonaten besonders effizient.

Ein Problem der Energiewende ist, dass man den erneuerbaren Strom nur schwer speichern kann. Nun gibt es die ersten E-Autos, die bidirektional laden, also den tagsüber gespeicherten Sonnenstrom abends wieder abgeben können. Ist das die Lösung?

Unsere Computersimulationen zeigen, dass Elektroautos für den Tag-und-Nacht-Ausgleich tatsächlich die Lösung sind, sogar ohne bidirektionales Laden. Wichtig ist, dass man überall laden kann, nicht nur zuhause, sondern auch tagsüber an der Arbeitsstelle. Dann kommt das ganze System ohne zusätzliche Batterien aus. Die Autos sind nämlich so grosse Stromverbraucher, dass man das ganze Netz allein dadurch stabil halten kann, indem man sie zu flexiblen Zeiten lädt. Und wenn bidirektionales Laden dazukommt, wird es noch einfacher.

Hat sich die Elektromobilität inzwischen endgültig durchgesetzt?

Ja. Momentan ist es auch so, dass die Nachfrage das Angebot übersteigt. So gesehen ist es schade, dass die Hersteller nicht früher genügend Kapazität aufgebaut haben, um E-Autos statt Benziner herzustellen. Es ist aber auch nachvollziehbar, weil der Markt lange sehr unsicher war. Kaum einer hat damit gerechnet, dass die Nachfrage an E-Autos so stark wächst.

Sie schon: In Ihrem Buch «Transforming Energy», das Sie 2014 veröffentlichten, haben Sie geschätzt, dass es bis 2019 rentabel sein könnte, ein Elektro-Auto zu fahren.

Da lag ich nicht schlecht (lacht). Inzwischen sind die Kosten, ein E-Auto zu fahren, tatsächlich niedriger als bei einem Verbrenner. In kleineren Fahrzeugklassen fällt der reine Kaufpreis aktuell zwar noch höher aus, aber in den oberen Klassen ist das schon nicht mehr der Fall. Und wenn man die Gesamtkosten addiert, kommen alle E-Autos günstiger. Das sieht man vor allem, wenn man ein Auto least und alle monatlichen Kosten zusammenzählt, also auch die Energie- und Unterhaltskosten.

Für die meisten Leute kommt ein E-Auto in Frage, sobald sie zuhause laden können.
Anthony Patt
ETH-Professor

Länder wie Deutschland haben hohe Förderprämien für Elektroautos, die Schweiz nicht. Ist das ein Fehler?

Förderbeiträge sind in der Schweiz nicht nötig. Was hingegen unbedingt nötig ist, sind Infrastrukturlösungen für Mieter und Stockwerkeigentümer. Da liegt der Haken, nicht beim Kaufpreis. Denn wie wir herausgefunden haben, kommt für die meisten Leute ein E-Auto in Frage, sobald sie zuhause laden können. Wer in einer Stadt wohnt und an der Strasse parkiert, hat momentan gar keine Lademöglichkeit. Und auch bei den meisten Mehrfamilienhäusern mit Tiefgaragen ist es völlig unklar, ob die Mieter das Recht haben, eine Ladestation zu installieren.

Müsste man das gesetzlich regeln?

Nicht zwingend, aber mit einem Gesetz geht es vielleicht fünf Jahre schneller, und diese fünf Jahre sind wichtig fürs Klima. Wir haben dazu eine Umfrage unter Gebäudebesitzern gemacht. Das Fazit: Die Mehrheit von ihnen wartet ab. Sie wollen sicher sein, dass genügend Mieter E-Autos fahren wollen, damit es sich lohnt, die Elektroinstallationen entsprechend anzupassen.

Ist der Ausbau der Ladeinfrastruktur in den Städten überhaupt finanzierbar?

Diesbezüglich haben wir in der Stadt Zürich untersucht, was die Allgemeinheit teurer kommt: die Gesundheitskosten aufgrund der Umweltbelastung von Verbrennungsmotoren oder die flächendeckende Installation von öffentlichen Ladestationen. Und tatsächlich, die Folgen der Luftverschmutzung kosten mehr als sämtliche Ladestationen, die es braucht, damit alle umsteigen können.

Kritiker bemängeln, dass Elektroautos gar nicht sauberer sind, wenn man die Herstellung inklusive Batterie miteinberechnet.

Wichtig ist, dass man alle lokalen Umweltaspekte und -konsequenzen berücksichtigt. Es stimmt natürlich, die Batterieherstellung braucht viel Strom, und wenn dafür fossile Energie eingesetzt wird, ist das schlecht für die Ökobilanz. Aber das ist kaum mehr der Fall, vor allem in Europa geht der Wandel zu den Erneuerbaren schnell vonstatten. Zudem muss bei den Verbrennern die Bereitstellung der Treibstoffe sowie die Umweltbelastung der Abgase mitkalkuliert werden, deshalb liegen E-Autos in der Gesamtrechnung weit vorne.

Die Folgen der Luftverschmutzung kosten mehr als sämtliche Ladestationen, die es braucht, damit alle umsteigen können.
Anthony Patt
ETH-Professor
ETH-Professor Anthony Patt schaut in die Kamera und erklärt etwas

Als Alternativantrieb wird immer wieder Wasserstoff angeführt, auch für den Einsatz in PWs.

Für Personenwagen ist Wasserstoff relativ sinnlos. Es wird eine gewaltige Herausforderung, die Energieversorgung rasch genug auf Erneuerbare umzustellen. Umso wichtiger ist es, diesen Grünstrom möglichst effizient zu verwenden. Beim Wasserstoffantrieb ist das Gegenteil der Fall, sein Wirkungsgrad ist viel zu tief und die Energieverluste damit zu hoch. Ein Wasserstoffauto braucht für die gleiche Strecke mehr als zwei Mal so viel Energie wie ein Elektroauto! Hinzu kommt: Es wäre gleich zu Beginn ein komplett neues Netz von Tankstellen nötig, um mit Wasserstoff fahren zu können. Nebst hohen Kosten bedeutet das auch eine Verzögerung von mindestens zehn Jahren, das verlangsamt den gesamten Systemwandel.

Die AMAG untersucht aktuell zusammen mit der EMPA, ob Oldtimer künftig mit synthetischen Treibstoffen betrieben werden können.

Bei Nischen wie Oldtimern könnte das Sinn machen, wichtig sind synthetische Treibstoffe aber vor allem für den Luftverkehr. Denn dort sind sie die Lösung für CO2-freies Fliegen. Eventuell kommen Synfuel noch für den Schiffsverkehr und Teile der Industrie in Frage, also überall dort wo Batterien nicht praktikabel sind.

Wie sind Sie selbst unterwegs?

Den Arbeitsweg von je 20 Kilometern lege ich mit meinem Rennvelo zurück, das hält mich fit. Seit 2015 fahre ich aber auch ein E-Auto, inzwischen haben wir sogar zwei in unserem Haushalt. Was mich nebst der Nachhaltigkeit am meisten begeistert: Es ist viel bequemer als mit einem Verbrenner. Ich muss nie an eine Tankstelle, komme einfach nach Hause und stecke ein. Und selbst die wenigen längeren Reisen pro Jahr sind kein Problem mehr, jetzt da Elektroautos mehr als 400 Kilometer Reichweite haben und schnell laden können.

ETH-Professor Anthony Patt schaut an der Kamera vorbei und erklärt etwas
ETH-Professor Anthony Patt lehnt sich an einem Geländer an
Die Lösung ist nicht, dass Benzin und Diesel teurer werden, sondern dass E-Mobilität günstiger und bequemer wird.
Anthony Patt
ETH-Professor

Nachdem letztes Jahr das CO2-Gesetz abgelehnt wurde, hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga Sie um Rat gefragt, wie es weitergehen kann. Offenbar hat die Energie- und Verkehrsministerin Ihren Rat berücksichtigt: Neue Lenkungsabgaben sind nicht mehr vorgesehen.

Ich denke, sie hat gemerkt, dass Lenkungsabgaben politisch schwierig umsetzbar sind, und wollte meine Meinung, ob sich das System auch ohne deren Einführung ändern lässt. Und das geht tatsächlich. Die Lösung ist nämlich nicht, dass Benzin und Diesel teurer werden, sondern dass E-Mobilität – ob mit E-Autos, E-Velos oder öffentlichen Verkehrsmitteln – günstiger und bequemer wird. Das bringt viel mehr als Lenkungsabgaben.

Sie sind Mitglied des Weltklimarats und arbeiten als einer der Hauptautoren an den Berichten zum Klimawandel. In der letzten Version, die im Frühjahr vorgestellt wurde, sehen Sie erstmals positive Tendenzen. Was ist geschehen?

Seit dem letzten Bericht aus dem Jahr 2014 wurden enorm viele technologische Fortschritte erzielt. E-Mobilität, Solar- und Windenergie, all das ist in den vergangenen Jahren konkurrenzfähig geworden. Erstmals bedeutet Klimaschutz nicht mehr höhere Energiepreise. Als Konsequenz sieht man, dass praktisch alle Länder ihren Ausstoss senken wollen – in einigen Ländern geschieht dies bereits. Damit hat man vor 10 Jahren nicht gerechnet.

In der Industrie werden ebenfalls grosse Anstrengungen unternommen.

Ja, gerade in der Autobranche. Die grössten Hersteller der Welt, unter ihnen auch Volkswagen, sind momentan diejenigen, die die E-Mobilität am stärksten fördern. Das ist sehr positiv.

ETH-Professor Anthony Patt spricht und gestikuliert, während er an einem Tisch sitzt

Ist der Höhepunkt beim CO2-Ausstoss also erreicht?

Vor allem in den reichen Ländern haben wir den Peak überschritten. Das Emissionswachstum passiert jetzt hauptsächlich in Asien, und auch dort verlangsamt es sich. Es ist sogar möglich, dass wir auch den globalen Peak bereits hinter uns haben. Um die CO2-Emissionen bis 2050 zu stoppen, liegt zwar noch gewaltig viel Arbeit vor uns, aber zumindest scheinen wir uns jetzt in die richtige Richtung zu bewegen.

ETH-Professor Anthony Patt steht am Geländer und starrt in die Ferne
Persönlich

Anthony Patt (57) ist Professor für Klimapolitik am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich. Der US-Amerikaner hat einen Doktortitel in Zivilrecht sowie einen Doktortitel der Harvard University in Public Policy. Er arbeitet als einer der leitenden Autoren an den Sachstandsberichten des Weltklimarats mit. Patt lebt mit seiner Familie im Zürcher Oberland.  

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